15 Kilometer zu Fuß durch Ankara

So modern ist Ankara. Und so rückständig. Ein Fußmarsch durch die Stadt führt von den großen Einkaufsstraßen, den weltoffenen Kneipenvierteln bis hinauf auf die Zitadelle. Da wo, der Tourist den Rummel, der allerorten um ihn gemacht wird, am ehesten erwartet, findet er Anatolien: Niedrige, kleine Häuser. Enge Gassen und spielende Kinder. Kopftücher allerorten und frisch gewaschene Unterwäsche gleich unter der türkischen Fahne, die den höchsten Punkt der Zitadelle krönt.

Der Abstieg die vielen hundert Stufen oder die Straßen hinab entscheidet, ob man nach Europa oder nach Kleinasien gelangt. Wer die Treppen wählt, kommt zwar auch in einen alten Stadtteil, der nicht europäisch wirkt. Aber hier passiert etwas Neues. Handwerker sanieren und restaurieren Altbauten. Hier wird nicht mehr weggerissen, was aus Lehm und Holz gebaut wurde, sondern es wird bewahrt. Vielleicht gibt es genau hier in einigen Jahren das, was wir Europäer so lieben: eine malerische Altstadt, die seit Beginn der jeweiligen Stadtgeschichte nie so farbig und aufgeräumt und geruchsneutral war.

Erstaunlich ist auch der Atatürk-Kulturpalast. In ihm wuselt es vor Menschen. Sie alle sind auf der Suche nach echten türkischen Waren. Denn heute ist hier ein Handwerkermarkt. Alles hat Tradition. Von den Lebensmitteln über die handgewebten Schals bis hin zu Ohrringen mit türkischem Türkis oder traditioneller Keramik aus Kütahya. Und alles ist günstig. Das fachkundige Publikum prüft, riecht, fühlt. Ganz so, wie es sich für einen Basar gehört.

Schräg gegenüber spielt Genclerbirligi Ankara in der Süperlig. Der Jubel der Fans ist weihin hörbar. Aber leider gibt es keinen Zugang zum Stadion. Hier kommt man nur mit Ticket weiter. Dafür fluten die Fans anschließend die U-Bahn. Überall Gesang. Alles voll latenter Agression und verschmitzter Freude. Kein Wunder: Das Durchschnittsalter ist unter 20. So wie überhaupt vor allem junge Gesichter auf den Straßen sind. Diese Stadt ist zwar riesig und in sich zerrissen. Aber die Jugendlichkeit der Bewohner eint sie.

Minimalistische Klänge von Philip Glass und dem Kronos Quartet veredeln Dracula

Sie haben sich versteckt. Obwohl die Fledermaus-Kolonie in der Spandauer Zitadelle zu den größten Berlins zählt, ließen sich die fliegenden Nager nicht blicken. Nur eine Fledermaus tauchte zu den Klängen von Philip Glass und dem Kronos-Quartet am Donnerstagabend auf: Dracula. Als die Dämmerung das Tageslicht fast verschluckt hat, beginnt ein außergewöhnliches Konzert. Philip Glass hat zum Spielfilm „Dracula“ von 1931 vor über zehn Jahren eine Filmmusik geschrieben. Der Rechteinhaber hatte den Film mit Bela Lugosi als Graf Dracula restaurieren lassen. Da der Streifen keine Musik hatte, wurde einer der wichtigsten zeitgenössischen Komponisten beauftragt, der nicht nur Opern und Kammermusik, sondern auch viel Filmmusik komponiert hat.

Eingespielt wurde die Musik schon damals mit dem Kronos-Quartet aus San Francisco, dem wohl einflussreichsten Streichquartett für Neue Musik. Glass und Kronos vereint die stete Überschreitung vermeintlicher Grenzen. Beide arbeiten sowohl klassisch als auch populär.

Dieses Verständnis von einer grenzenlosen Musik, die sich an der Entdeckung von Ungehörtem orientiert und gleichermaßen Kopf und Bauch des Zuhörers fordert, ist beim Berliner Auftritt allgegenwärtig. Und das, obwohl die Musik nur Teil des Abends ist. Der alte Tonfilm läuft auch noch.

Philip Glass hat mit seinen minimalistischen Tonfiguren, die in immer neu variierten Schleifen mit unterschiedlicher Beschleunigung und tragenden Instrumenten dem Film einen großen Dienst erwiesen. Immer da, wo die Handlung nicht stimmig ist, erzeugt die Musik mit ihren Loops für thematische Klammern. Und da, wo Filmtricks aus dem Jahr 1931 – etwa bei ins Zimmer fliegenden Riesen-Fledermäusen – heute nur noch für mitleidiges Gelächter sorgen, intoniert die Musik den dramatischen Ernst.

Diese Symbiose aus neuer Musik und altem Film lockt 1300 Zuhörer in die Zitadelle. Das internationale Publikum ist begeistert. Standing Ovations bejubeln den seltenen Auftritt. Der Applaus dankt für ein Erlebnis, das Glass in einem Interview so zusammenfasste: „Wenn wir über meine Musik reden, reden wir über eine Welt, die nicht diejenige ist, in der wir leben.“ Das gilt für die Musik und für Dracula. Und wohl auch für die Fledermäuse, die ihre Heimat an diesem Abend nicht wiedererkannten.

Philip Glass spielt zu „Dracula“ auch am Sonnabend in Dresden.

MOZ-Rezension…