Lenins Reise von Zürich über Deutschland nach Petersburg hat 1917 Geschichte geschrieben. Seine Reise durch Europa als Denkmal erzeugte nicht nur surreale Eindrücke, sondern sie regte auch Debatten über Geschichte und Denkmäler an.
Rudolf Herz hat im Jahr 2004 die Büsten des Dresdner Lenin-Denkmals auf einen Auflieger geschnallt und ist damit durch Europa gefahren. Der aus dem Allgäu stammende Künstler wollte das Denkmal in neue Zusammenhänge rücken. Und so Diskussionen über das Wirken des Revolutionärs und Begründers der sowjetischen Diktatur provozieren. Im kürzlich erschienen Buch „Lenin on Tour“ hat Herz die Reise dokumentiert. Fotos von Reinhard Matz und Irena Wunsch setzen den Reisenden Lenin mit seinen Genossen Rotfrontkämpfer und Arbeiter in surreale Bezüge.
Vor dem Dresdner Hauptbahnhof wurde das Monumentaldenkmal von Grigorij Jastrebenetzkij aus dem damaligen Leningrad 1974 aufgestellt. Mit seinen gigantischen Ausmaßen dominierten Lenin und die beiden anderen Figuren den Platz bis 1992. Dann wurde das Denkmal geschleift, in Einzelstücke zerlegt und schließlich von einem Sammler aus Baden-Württemberg gekauft. Die Stadt Dresden hatte sich so von Stein gewordener kommunistischer Ideologie befreit. Die friedliche Revolution von 1989 säuberte den öffentlichen Raum, um ihn nicht mehr mit den Geschichtssymbolen der Diktatur zu belasten.
Rudolf Herz nun hat mehr als eine Dekade später diesen Lenin neu in Szene gesetzt. Nur die Köpfe und Schultern des alten Denkmals wurden auf dem Auflieger platziert. Die roten Spanngurte fesselten die streng blickenden Kommunisten. Schon dies allein hätte genug Symbolik, um den Betrachter zu verblüffen und zu verunsichern. Doch Herzens Idee, diese aus der Zeit gefallenen Mahner in Bewegung zu setzen und somit ständig in neuen Umgebungen zu zeigen, war genial.
Der gefesselte Lenin vor einer Bank in Zürich ist nicht nur eine faszinierende historische Reminiszenz an sein Exil. Dieses Bild erzeugt darüber hinaus eine enorme Sprengkraft. Lenin neben einem Dessous-Plakat mit einer leicht bekleideten Frau irritiert einfach. Und Lenins Blick auf die Reste der Berliner Mauer an der Berliner Eastside-Gallery sorgt für Zorn und Ratlosigkeit. Wer die Bilder des Buches betrachtet, kann sich solchen Gefühlen nicht entziehen. Dafür ist Lenin noch zu wirkungsmächtig.
Das ging offensichtlich auch den Passanten so, die über den ungewohnten Anblick diskutierten. Das taten sie überall. Einige reckten spontan die linke Faust, andere erschraken. Wieder andere diskutierten über Lenins gute Ideen und deren Entartung. Wirklich unbeeindruckt ließ der Anblick des von seinem Denkmal entrückten Lenin niemanden.
Das Buch bündelt alle diese Reaktionen ebenso wie eine Reihe kürzerer Essays zum Thema Denkmäler und Erinnerungskultur. Der spannendste Aspekt der Lenin-Road¬show ist sicherlich, dass die Konfrontation mit dem Unerwarteten Reaktionen herausfordert. Stünde der Lenin nach wie vor in Dresden, wäre die Wirkung eine andere. Er würde den öffentlichen Raum angesichts seiner Monströsität verunstalten. Auch weil ein Gedenken an Lenins Wirken heute die Trauer über die Abermillionen Opfer der Revolution und der Sowjetunion in den Mittelpunkt rücken müsste.
Rudolf Herz: „Lenin on Tour“, Steidl, 272 S., 35 Euro