Ilija Trojanow hat recht: „Sister Carrie ist kein Meisterwerk im üblichen Sinn, sondern ein roher Diamant.“ Das schreibt der Schriftsteller in seinem Nachwort über den erstmals in der vollen Länge in Deutsch erschienen Roman von Theodore Dreiser. Die Geschichte einer jungen Frau, die bettelarm vom Land ins wachsende Chicago kommt, um hier Fuß zu fassen, nimmt Geschlechterrollen und Moral in den Blick, ohne zu verurteilen. Vielmehr ist Dreiser bereit, das Handeln seiner Figuren zu akzeptieren und zu verstehen. Als Autor musste er dafür einen hohen Preis zahlen: Der Roman wurde nur gekürzt und geglättet veröffentlicht.
Das Besondere an Theodore Dreisers Buch ist die Bereitschaft, vermeintlich unmoralisches Verhalten zu verstehen. Carrie begegnet schon auf der Bahnfahrt nach Chicago einem weltgewandten Mann, der sie interessant findet. Zunächst vermeidet sie jedoch den Kontakt zu dem Handlungsreisenden und versucht stattdessen einen ehrlichen Job zu finden. Aber das ist schwerer als gedacht. Und der Knochenjob in der Schuhfabrik mit seinem mickrigen Lohn ist alles andere als eine Verheißung. Und so läßt sich Carrie von ihrem Galan zunächst einkleiden, dann eine Wohnung finanzieren und schließlich mit ihm zusammenzuleben. Sein Versprechen, sie zu heiraten vertagt er immer wieder.
Als sie einen Restaurant-Manager durch ihren Freund kennenlernt, kommen neue Gefühle auf. George Hurstwood steht gesellschaftlich noch besser da, hat noch bessere Manieren, umwirbt sie noch aufmerksamer. So viel Aufmerksamkeit ist Carrie nicht gewohnt. Obwohl Hurstwood verheiratet ist, will er unbedingt mit Carrie zusammenleben. Letztlich lässt er sich zum Diebstahl nicht nur der Tageseinnahmen hinreißen, um Carrie unter einem Vorwand zum gemeinsamen Aufbruch in ein neues Leben zu überreden. Auch jetzt lässt sich die junge Frau aushalten. Aber glücklich macht sie das auch nicht. Als es Hurstwood dann nicht gelingt, sich in New York so zu etablieren wie einst in Chicago, macht sich Carrie auf den Weg, um auf der Bühne Karriere zu machen. Während Hurstwood verarmt, beginnt ihr autonomer Weg nach oben.
All das erzählt Dreiser mit einer erstaunlichen Empathie. Der Leser kann das Verhalten der Figuren immer nachvollziehen. Moral ist überhaupt keine Kategorie des Erzählers, sondern Verständnis. Subtile Erotik ist im Text gut versteckt. Susann Urban, die den Roman ins Deutsche übersetzte, vermeidet ebenfalls jedes offene oder gar explizite Sprachbild. Und so erzählt er der Roman eigentlich die Geschichte der Selbstermächtigung einer jungen Frau. Sie geht ihren Weg und nutzt die Chancen, die sich ihr eröffnen. Diese Emanzipation ist oftmals verwirrend, immer aber so, dass man weiterlesen will. Das liegt auch daran, dass der Absturz Hurstwoods ebenfalls ohne Anklage oder Verurteilung beschrieben wird. „Sister Carrie“ kommt ohne Schablonen und Schubladen aus. Für einen Roman aus dieser Zeit ist das eine Seltenheit, die ihn tatsächlich zu einem „rohen Diamanten“ macht.