Der Mann ist klein. Er misst nicht mehr an 1,50 m und ist damit ungefähr so groß wie ein zehnjähriges Kind. Seine Haare sind grau. Genauso wie sein Vollbart. Bei seinem Anblick ertappe ich mich dabei, verlegen zur Seite zu sehen.
Der Mann strahlt Ruhe und Würde aus. Er ist sich seiner selbst bewusst und weiß mit seiner Körpergröße umzugehen. Anders als ich, der ich irritiert bin. Sein Anblick löst in mir alle möglichen Erinnerungen an Romane und Filme aus. In meiner Phantasie überschlagen sich Oskar Matzerath und Heinzelmännchen. Die absurden Mainzelmännchen vom ZDF tauchen auf und verschwinden genauso schnell wieder wie die kleinen Menschen, die Gulliver auf Lilliput fesseln. All das und vieles mehr überschlägt sich in meinem Kopf. Und all das ist mir unendlich peinlich.
Aber warum? Weil mich irritiert, dass ein Mann in Würde und Ruhe in einem Lokal essen geht, der so viel kleiner ist als ich? Oder ist es die Irritation, weil ich diese Andersartigkeit nicht gewohnt bin? Weil es in meinem Umfeld niemanden gibt, der so klein ist? Weil in unserer Welt all die Kleinwüchsigen, all die Menschen, die nicht der Norm entsprechen, aus der Öffentlichkeit verschwunden sind? Aber hier, im Konspira in Breslau nicht?
Genau hier in diesem Lokal, in dem der Widerstand der Breslauer gegen die kommunistische Diktatur gefeiert wird? In dem der „maly konspirator“ in der Speisekarte gedacht werden? Und damit auch der Tradition der Breslauer Zwerge? Vielleicht beschämt mich ja genau diese Kombination eines realen kleinen Mannes mit all den Zwergen, die ich tagsüber in der Stadt gesehen habe. Mir scheint, als würde sich der historische Erinnerungsort, der diese Wirtschaft auch ist, mit der Realität überlagern. Als sollte mir gezeigt werden, dass Geschichte auch immer weiter zu gegen ist.
Für diesen Mann, der gar nichts dafür kann, dass er mich beschämte, gibt es keinen besseren Ort, als das „Konspira“ um zu speisen. Für mich als Zeugen, bleibt am Ende die simple Erkenntnis, dass wir die Körpergröße, dass das Äußerliche, dass der Schein nichts über das Wesen eines Menschen aussagt. Und dass die Vielfalt ein Gewinn für uns sein muss. Eine Vielfalt, die wir verteidigen müssen.
P.S. (Nachtrag am 14. Mai) Ich bin dem Mann erneut begegnet. Er wohnt offenbar auch am Salzmarkt, wo ich mein Zimmer habe. Er lächelt mich an, als wir uns begegnen. Fast so, als kennten wir uns schon lange. Auch wenn es nicht so ist, so werde ich ihn lange in Erinnerung behalten. Und immer an ihn denken, wenn ich wieder einmal über die Vielfalt erschrecken anstatt mich zu freuen.