Thomas Brussig sucht die käufliche Liebe

Bordelle, Swinger-Clubs und Peep-Shows sind die Räume, die sich Thomas Brussig (41, Sonnenallee) für sein neues Buch genau anschaute. Auf 200 Seiten beleuchtet er das horizontale Gewerbe Berlins aus fast allen Perspektiven.

Bislang hat der Ostberliner vor allem mit Romanen auf sich aufmerksam gemacht, die mit viel Ironie und Witz auf die DDR und die Wende zurückblickten. Zwar spielte schon in Helden wie wir das männliche Geschlechtsteil eine ganz zentrale Figur. Dennoch schrieb Brussig damals einen rein fiktionalen Text. „Berliner Orgie“ ist dagegen eine Sammlung von Reportagen.

Anlass für Brussigs Streifzüge durch die Welt der käuflichen Erotik und Liebe Berlins war die Anfrage einer Boulevardzeitung. Sie wollte von dem Autor Texte über Puffs, Straßenstrich und Escort-Service. Ziel war ein persönlicher Zugang zu einer Welt, die mit
Mythen und Gerüchten für viele Menschen verhüllt ist. Diesen Schleier kann Thomas
Brussig tatsächlich beiseite schieben. Und das ganz ohne billiges Spannen zu ermöglichen-

Brussig  nähert sich den Huren, spricht mit ihnen, schafft es, Vertrauen zu gewinnen und erfährt so sehr viel von den nüchternen Lebensbedingungen in den Bordellen und auf
der Straße. Brussig begegnet Ausländerinnen vor allem aus Osteuropa. Doch viele von ihnen sind keine Zwangsprostituierten, sondern sie wählten den Strich nach gescheiterten Ehen. Das ist natürlich auch nicht wirklich freiwillig, aber es ändert den Blick auf die
Frauen.

Brussig begegnet oft auch der Tristess und der Trostlosigkeit, die alles andere als Lust erzeugt. Er fragt sich, was Männer dazu treibt, hier Frauen viertelstundenweise einzukaufen. Aber er schildert auch ganz offen, dass es für ihn als Mann eine ganz neue Erfahrung war, umworben zu sein. Während sonst Frauen von Männern umworben
werden, funktioniert die käufliche Liebe gerade andersrum. Brussig ist so offen, über seine
Komplexe und mulmigen Gefühle zu schreiben. Und über die Faszination, wenn Frauen offen um ihn werben – auch wenn es eigentlich nur ums Geschäft geht.

Fazit: Ein offenes Buch über ein delikates Thema, das Thomas Brussig ohne feuchte Träume, falsche Scham oder Spannerlust schildert.

THOMAS BRUSSIG: BERLINER ORGIE. PIPER. 16,90 EURO.

Baru zeichnet ein scharfes Bild vom Rechtsradikalismus

Es hat relativ lange gedauert, bis die Comics des Franzosen Baru (eigentlich Hervé Barulea, 59) in Deutschland angekommen sind. Sein 1995 in Frankreich erschienener Band „Autoroute Du Soleil“ ist ein Beispiel dafür.

Das 430 Seiten dicke Buch ist aber noch immer aktuell. Es erzählt die merkwürdige
Freundschaft eines Lothringers mit einem jungen Araber, die auf der Flucht vor den Schlägern der rechtsradikalen Front National sind. Baru zeichnet das Bild einer
Gesellschaft, in der Migranten nicht willkommen sind, weil die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Das erinnert auch an manche Ecke im Osten Deutschlands. Aber Baru belässt es nicht bei einfachen Erklärungen. Seine Figuren leben. Und überzeugen deshalb.

Baru: AUTOROUTE DU SOLEIL. CARLSEN VERLAG. 19,50 EURO

Christian Rickens schreibt gegen neokonservative Plappermäuler

Dieses Buch ist ein Segen. ChristianRickens argumentiert geistvoll gegen die Armada der neokonservativen Plappermäuler dieser Republik an. Ob Eva Herrmann (48, Das Eva-Prinzip), Matthias Matussek (56, Wir Deutschen) oder Björn Lomborg (42, Apocalypse No), sie alle werden inhaltlich sachlich, aber im Ton auch etwas böse widerlegt.

Rickens schafft es, der schwülstigen Sehnsucht nach Gebärfreudigkeit im Namen der Nation, Patriotismus ohne historische Verwurzelung und Freude am deutschen, aber reaktionären Papst Klarheit und Aufklärung entgegenzusetzen. Rickens Buch ist ein Muss für alle, die sich als mündige Bürger verstehen.

Christian Rickens: DIE NEUEN SPIESSER – VON DER FATALEN SEHNSUCHT NACH EINER ÜBERHOLTEN GESELLSCHAFT. ULLSTEIN. 14 EURO

Je jünger um so besser das Debüt: Sonya Kitchell

Sonya Kitchell
Sonya Kitchell

Sie war 16 Jahre alt, als sie ihr Debüt veröffentlichte: Sonya Kitchell. Inzwischen ist sie schon 18 – und bringt ihr Album „Words Came Back To Me“ endlich auch in Deutschland auf den Markt. Jetzt steht dieses erstaunliche Werk auch in Deutschland in den Plattenläden. Zwar haben auch Joss Stone (30), Norah Jones (28) und vor allem Katie Melua (22) schon sehr jung Platten aufgenommen und dennoch mit wunderbaren Stimmen überzeugt.

Doch Sonya Kitchell singt nicht nur grandios, sie hat ihre Texte und Lieder auch alle selbst geschrieben. „Words Came Back To Me“ besticht durch einen feinen akustischen Sound, der mit Elementen aus Jazz, Rhythm’n’Blues, Pop, Folk und Roots-Musik spielt. Die einfühlsame, zwischen Melancholie und Wärme schwankende Stimme von Sonya Kitchell ist das optimale Medium, um ihre in den Texten verarbeiteten Gedanken, Sorgen und Gefühle zu transportieren.

Was sie da singt, hat nichts mit Teenie-Gedöns zu tun. Sonya Kitchell setzt sich in ihren Texten genauso erstaunlich reif mit der Welt auseinander, wie sie ihre Musik schreibt und interpretiert. Von der jungen Amerikanerin werden wir hoffentlich noch viel hören.

Diese Rezension ist am 5. Mai 2007 in 20cent erschienen.

Ein Comic mit Uma Thurman

Ganz verschüchtert sitzt sie in der U-Bahn. Und ebenso verschüchtert traut sich Architekt Matt Saunders (Luke Wilson, 35) erst nicht, Jenny Johnson (Uma Thurman, 37) anzusprechen. Nachdem er allen Mut zusammengenommen hat, beginnt eine heftige Liebesgeschichte.

Denn Jenny ist G-Girl, quasi Superman als Frau. Wenn sie helfen kann, nimmt sie ihre überirdischen Kräfte zusammen, fliegt durch die Luft und rettet sogar New York vor einem Terroranschlag. Aber auch wenn sie eifersüchtig wird, kann sie ihre Kräfte nicht zügeln und wird so zur Plage für Matt.

Der Plott von Die Super-Ex ist wie aus einem Comic: schrill, einfach und mit einer Brise Holzhammer-Humor. Wer darauf steht, genießt Uma Thurman in ihrem Rollenspiel. Wem solcher Humor zu platt ist, dem können die 90 Minuten des Films zur Qual werden.

Alles zur RAF auf 1400 Seiten

Wolfgang Kraushaar: Die RAF und der linke Terrorismus
Wolfgang Kraushaar: Die RAF und der linke Terrorismus

47 Autoren hat Wolfgang Kraushaar auf den 1400 Seiten seines zweibändigen Werks „Die RAF und der linke Terrosrismus“ versammelt. Damit wird es sicher zum Standardwerk über die Geschichte der RAF und des linken Terroismus in Deutschland.

Kraushaar und seinen Autoren gelingt es, das Phänomen RAF genau zu ergründen. Es gibt Porträts der wichtigsten Täter. Überblicke über Organisation, Attenatate und Ziele der RAF und lesenswerte Einordnungen des deutschen Terrorismus in den internationalen
in der Vergangenheit und der Gegegwart. Was fehlt, ist der Blick der Opfer auf die Terroristen. Dennoch: Wer fundiert und gut verständlich über dieses Kapitel deutscher Geschichte informiert werden will, muss zu diesem Buch greifen.

WOLFGANG KRAUSHAAR (HG.): DIE RAF UND DER LINKE TERRORISMUS,
2 BÄNDE. HAMBURGER EDITION. 78 EURO.

Diese Rezension ist am 26. März 2007 in 20cent erschienen.

Battle in Heaven – Passion zwischen Sex und Mord

Wie aus einer anderen Welt gefallen, wirkt der ganze Film. Obwohl es um Kindesentführung, Mord und Sex geht, schwebt Battle in Heaven in einer metaphysischen, religiösen Welt. Weil Marcos und seine Frau davon träumen, zur Mittelschicht zu gehören, entführen sie ein Kind. Mit dem Lösegeld wollen sie ein besseres Leben bezahlen. Der Preis dafür ist hoch: Das Kind stirbt.

Marcos sucht Trost bei der Tochter seines Chefs. Daraus entsteht ein merkwürdiges Abhängigkeitsverhältnis, indem Anna versucht, Marcos zu dominieren. Der Film ist eine konsequente filmische Umsetzung einer Pilgerfahrt ins Jenseits. Selbst die sehr
deutlichen Sex-Szenen dienen nicht der Erzeugung von Lust beim Zuschauer, sondern sie führen zu einer Auflösung der Realität. Das verstört extrem. Und ist ein Experiment mit der Gefühlswelt des Zuschauers.

Johnny Cash in Schwarz-Weiß

Johnny Cash (1932 bis 2003) war einer der ganz Großen. Nach Durststrecken schaffte er ein Comeback, das junge Hörer genauso faszinierte wie alte Country-Fans. Der Comic-Zeichner
Reinhard Kleist setzt Cash mit einer Biografie ein Denkmal.

Auf 200 Seiten macht sich der Zeichner auf die Erkundung eines Mythos. Eigentlich müsste so ein Versuch scheitern. Denn der Platz reicht nicht, um ein langes Leben von allen Seiten zu beleuchten. Aber genau das macht Kleist auch nicht. Er konzentriert sich auf die Aspekte im Leben Johnny Cashs, die ihn charakterisieren. Dabei bleibt Kleist nicht auf der Oberfläche anekdotischer Belanglosigkeiten. Er nähert sich dem CountryStar, der von vielen klassischen Country-Fans wegen seiner Lebenseinstellung nicht geachtet wurde, über ein Schlüsselerlebnis.

1968, auf der Höhe seines Erfolgs, spielte Johnny Cash zwei Konzerte in einem Knast.  Johnny Cash Live At Folsom Prison wurde ein Verkaufsschlager. Der Country-Sänger im schwarzen Anzug verkaufte mehr Alben als die Beatlesin den USA. Das besondere an Folsom Prison war ein Song. Den hatte ein Häftling geschrieben. Cash bekam ihn kurz vor seinem Gig. Und interpretierte ihn mit so viel Verständnis für die dunkle Seite des Lebens, die alle
Inhaftierten kannten und alle Hörer in sich ahnten, dass er Gänsehaut erzeugte.

Folsom  Prison wird von Kleist zu einem zentralen Ereignis im Leben Johnny Cashs gemacht. Von hier aus zeichnet er Rückblenden in die Kindheit, seine Zeit als Soldat in Deutschland und den Start der Musiker-Karriere. Von hier aus blickt er aber auch in die Zukunft. Bis hin zum alten Johnny Cash, der mit seinen American Recordings mit Jack Rubin als Produzenten ein bislang einmaliges Alterswerk aufnimmt.

Reinhard Kleist liefert mit seiner Interpretation des Lebens von Johnny Cash einen wichtigen Baustein. Der Comic ist schwarz-weiß gezeichnet. Etwas anderes würde
für den Mann im schwarzen Anzug auch nicht passen. Damit schafft Kleist eine Ästhetik, die Cash angemessen ist – und besser als jede TV-Doku ist.
REINHART KLEIST: CASH – I SEE A DARKNESS. COMIC-BIOGRAFIE. CARLSEN COMIC. 14 EURO.

Das Pop-Requiem des Ex-Punks Rocko Schamoni

Ein Mann wird alt. Und wir dürfen dabei sein! In unsere Gehörgänge rotzt er seinen Zorn über die Jugend, zu der er doch selber einst gehörte. Rocko Schamoni (40) hat ein Alter erreicht, in dem Auf-Jung-Machen nur noch peinlich ist.

Dessen ist sich der einstige Dorfpunk (so der Titel seines Romandebüts vor zwei Jahren) bewusst. Und deshalb blöckt er jetzt: „Ihr seid Jugendliche / Ihr seid fertig drauf / Ihr seid stolz und hässlich“ und weiter „Ihr seid dumm und glatt / Ihr seid reich und sportlich / Ihr
tragt Army-Klamotten“. Dieser Jugend könne man das Schicksal der Welt nicht anvertrauen!

Rockos Blick ist unerbittlich. Natürlich spielt er in diesem Song wie in den anderen mit der Erwartungshaltung und den Klischees vom Alt-Werden und Jung-Sein. Das macht er auf seine einmalige Art. In Deutschland gibt es keinen vergleichbaren Ex-Punk, der mit den Mitteln der Popmusik seine Wahrheiten so unters Volk bringt.

Seine Botschaften dieser letzten CD, die seit gestern in den Regalen steht, erinnern an die Tiger Lillies. Seine Musik und seine Stimme sind allerdings gegenwärtiger. Seine Präsenz schreit danach, sich nicht aufs Altenteil zurückzuziehen. Es wäre zu schade, wenn er verstummt.

Dennis DiClaudio ist ein Genuss für kleine und große Hypochonder

Es sind nur 45 Krankheiten, die uns Dennis DiClaudio vorstellt. Für ein Lexikon ist das eigentlich viel zu wenig. Wer sich schon einmal mit Harald Schmidts Lieblingsbuch, dem Pyschrembel, vergnügt hat, dem mag das kleine und dünne Werk also  zwergenwüchsig vorkommen. Oder schmalbrüstig.

Doch mehr als die 200 Seiten DiClaudios wären tatsächlich gesundheitsgefährdend. Denn die medizinische Aufklärung macht nur einen Teil des Werkes aus. Die Kommentare, hier Prognose genannt, sind der für das Zwerchfell problematische Kern. Sie können zu Verkrampfungen und damit verbundenen Atembeschwerden führen. Ruckzuck wird so aus vermeintlicher Hypochondrie ein ernsthaftes Leiden.

Dennis DiClaudio: DER KLEINE HYPOCHONDER. DVA. 29,95 EURO.

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