Das Böllenfalltor in Darmstadt ist eines dieser alten Stadien, die schon viel bessere Zeiten erlebt haben. Damals spielten die Lilien in der 1. Bundesliga. Und die Zuschauer gingen noch nicht davon aus, dass man einen Nachmittag oder Abend im Stadion bei Regen trocken übersteht. Nur die Haupttribüne hatte ein Dach – und das ist auch noch heute so. 1978 gelang der Aufstieg – Jahre später folgte für die Lilien der tiefe Fall. Durchgereicht in den Amateurfußball blieb kein Geld mehr, um das Stadion weiterzuentwickeln. Und das sieht man dem Stadion am Böllenfalltor an.
30.000 Zuschauer passten während der Zeit der 1. Liga in das Stadion. Jetzt sind es gerade noch 17.000. Die freuten sich beim Pokalspiel gegen Schalke 04 auf hochklassigen Fußball – und über den lauen Spätsommerabend. Das Böllenfalltor war ausverkauft, die Stehplatzränge dicht gefüllt, die Stände mit Bratwurst und Rindwurst, mit Bier und Äppler stets umlagert. Blau-weiß wehten die Fahnen im Gästeblock und bei den Heimfans. Stimmlich dominierten die Gäste, weil die harten Lilienfans zwar aktiv, die Massen aber nicht mehr geübt sind.
Aber genossen haben sie es, dieses Pokalspiel, bei dem der Drittligist die Führung von Schalke umgehend ausgleichen konnte. Und das lag auch am Charme dieses Stadions, das für Bundeliga-Zuschauer wie aus der Zeit gefallen wirkt. Pokalspiele bieten beim DFB noch den Raum, Fußball ohne übertriebene Auflagen erleb zu können. Ganz nah, ganz eng zusammen mit den anderen Zuschauern auf den Stehplätzen und mit einem feinen Blick auf ein herrliches Spiel von Darmstadt 98 und Schalke 04.
Bei eBay gibt es eine schöne Funktion. Mit ihr kann man sich per Mail darüber informieren lassen, wenn jemand verkaufen will, was man selbst kaufen will. Sie ist ein Verführungsinstrument aller schlimmster Güte. Denn wenn so eine Mail kommt und sich in ihr findet, was man sucht, so ist es schwer zu widerstehen. Vor allem für Sammler sind diese Benachrichtigungen oftmals wahre Folterinstumente. Wenn der Blick in den Geldbeutel offenbart, dass dieses Buch jetzt doch nicht gekauft werden kann, entsteht ein Gefühl von Selbstkasteiung.
Manchmal aber liefert die Benachrichtigungsfunktion über Jahre hinweg keinen Treffer. Auch die regelmäßige Suchanfrage im ZVAB, dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher bleibt bei ihnen lange ohne Ergebnis. Was auf der einen Seite sehr traurig ist, auf der anderen aber auch gut, weil sie mich davor bewahrt, eine Kaufentscheidung treffen zu müssen. „Es konnten momentan leider keine Einträge gefunden werden“, steht dann da. Das elektrisierende Gefühl beim Finden bleibt aus. Aber der Kopf entspannt sich, weil er jetzt nichts entscheiden muss.
Umso erregender ist es dann, wenn sich so ein Buch tatsächlich findet. Und zwar im Antiquariat oder auf einem Krabbeltisch. Als ich den unscheinbaren braunen Einband des Buchrückens von Karl Fruchts „Verlustanzeige – Ein Überlebensbericht“ entzifferte, durchzuckte mich dieses wunderbare Gefühl des Findens. Ein Buch, das sich jahrelang im Netz nicht finden ließ, lag mit dem Buchrücken nach oben in einer dieser Pappkisten, die gerne vor Antiquariaten stehen. in echt – und nicht nur als als Bild mit Text in der Trefferliste eines Suchergebnisses. Mit Briefmarken und Absenderaufkleber eines Briefes einer Frau aus Kassel, als die Postleitzahlen noch vierstellig waren. In einem Zustand, als wäre es neu.
Das Buch beschreibt einen dieser für heutige Leser unfassbaren Lebenswege. 1911 geboren, als Jude in Wien aufgewachsen, zum Juristen ausgebildet, aber zusammen mit der lebenslangen Freundin Hertha Pauli eine Literaturagentur gegründet, die Ödön von Horváth, Walter Mehring, Joseph Roth und viele andere vor allem an Zeitschriften und Zeitungen vermittelte, dann 1938 direkt nach dem „Anschluss“ geflohen, in Frankreich interniert und als Helfer Varian Frys schließlich in die USA entkommen. Zeitweise Soldat in der tschechischen und der französischen Armee und schließlich als amerikanischer Soldat Teilnehmer des 2. Weltkrieges, der Gefangene der Wehrmacht verhört. Dann Leben in den USA und arbeiten in der Rüstungsindustrie als technischer Schreiber, später bei der UNO in der Weltgesundheitsorganisation und für den Tierschutz. All das als Nomade, der die alte Heimat nicht vergessen kann, sie mit den Überlebenden wie dem Freund George Grosz oder Hertha Pauli immer erinnert – und bei den Aufenthalten in Wien versucht zu spüren. Doch da gibt es die Caféhauskultur nicht mehr. Die Schriftsteller, die er als Agent betreute, sind fast alle geflohen, die meisten haben die Befreiung nicht mehr erlebt.
Das Buch ist ein wirkliches Fundstück. Es ist gut geschrieben, ist nicht zu nah am Autor und doch auch nie entfernt. Der Text lässt einen Staunen ob der reichhaltigen Erlebnisse und Verzweifeln, weil der Verlust durch die Nazis so spürbar wird. Ein Glück gibt es Antiquariate, die verhindern, dass solche Bücher ins Altpapier wandern, weil dir Erben der Besitzer nichts mit dem Namen des Autors anfangen können. Und die beim Finder dieses elektrisierende Gefühl auslösen. Und beim Leser das Wechselbad zwischen Trauer und Bewunderung und Freude.
Am Sonntag wird gewählt. In Märkisch Oderland geht es nicht nur um die Zukunft Angela Merkels und Peer Steinbrücks, sondern auch um die von Landrat Gernot Schmidt. Der will wiedergewählt werden und hat jetzt Wahlwerbe-Videos auf Youtube gestellt, die ihn anders ins Gespräch bringen, als er das wohl gedacht hatte.
Vor fünf Tagen hat Gernot Schmidt einen eigenen Youtube-Kanal eröffnet. Wahlkampf in den sozialen Medien ist heutzutage ja eigentlich für alle ernstzunehmenden Kandidaten Pflicht. Wenn Schmidt das erst so spät erkennt, hat der SPD-Politiker offenbar Bedenken, dass er am kommenden Sonntag nicht die absolute Mehrheit bekommt und dann zwei Wochen später in die Stichwahl muss.
Seine Konkurrenten in Märkisch Oderland regen sich über die Videos auf. Bernd Sachse, der Landratskandidat der Linken nutzt soziale Medien schon länger. Direkt nach Veröffentlichung des Videos hat er auf Facebook geschrieben, dass „Beschäftigte des Kreises offensichtlich während der Arbeitszeit eingebunden wurden.“ Denn im jüngsten der drei Schmidt-Videos loben Chefärzte der landkreiseigenen Kliniken Gernot Schmidt über den grünen Klee. Und sie fordern dazu auf, ihn zu wählen. Das hat ein Geschmäckle. Denn Schmidt ist Aufsichtsratsvorsitzender der Kliniken in Strausberg oder der Kurklink in Bad Freienwalde. Auch wenn die Ärzte sagen jetzt, sie hätten nicht gewusst, dass sie für einen Wahlwerbespot gefilmt werden.
Der Präsident der IHK Ostbrandenburg, Ulrich Müller, wirbt ebenfalls für Schmidt. Da in den Kammern jedes Unternehmen Mitglied werden muss, sind diese zu parteipolitische Neutralität verpflichtet. Müllers Aufruf zur Wahl von Gernot Schmidt ist also mehr als heikel. Und die Wahlwerbung durch Gudrun Thiessenhusen vom Oberstufenzentrum Märkisch-Oderland kann für sie selbst zum Problem werden. Als Beamtin, deren Schule vom Landkreis finanziert wird, ist ihr Wahlwerbung verboten. Einem Kollegen von „Brandenburg aktuell“ sagte sie heute, dass sie ebenfalls nicht wusste, dass die Vieoaufnahme für einen Wahlspot gemacht wurde. Sie ist jetzt ziemlich in der Bredoullie.
Landrat Gernot Schmidt sieht in der ganzen Sache kein Problem und meint etwa zu den Ärzten, die für ihn werben: „Das sind alles Menschen, die sich frei äußern können, die nicht von mir zensiert wurden.“ Ob er das Video jetzt entfernt, weiß er noch nicht. Wenn man bedenkt, dass diese Videos noch nicht einmal 100 Mal aufgerufen wurden, dann wirkt das alles nicht nur problematisch, sondern auch ziemlich dilettantisch.
http://youtu.be/DG-NRN_i5l0
(Das Video wurde am 17. September zwischen 17.00 und 18.00 Uhr von Gernot Schmidt von Youtube gelöscht. Nun findet sich in seinem Kanal eine stark gekürzte Version ohne die Chefärzte und ohne den Präsidenten der IHK Ostbrandenburg. Er hat offensichtlich auf die Kritik reagiert; A.O. a, 17. 09. 2013)
August Engelhardt ist einer von diesen extremen Menschen, die vor lauter Prinzipien das lebenswerte Mittelmaß vergessen. Er ist Vegetarier. Er ist Nudist. Und weil das noch nicht reicht, entwickelt er eine Lehre, in der die Kokosnuss zum Fetisch der Welterlösung wird. Aber nur, wenn man sich komplett auf die Kokosnuss verlässt, nur sie zu sich nimmt und auf jede andere Nahrung verzichtet. Bei August Engelhardt hat sich etwas verrückt. So wie bei vielen anderen Sektenführeren und Sektierern auch.
Christian Kracht hat sich diesen August Engelhardt, den es tatsächlich gab, genauer angeschaut und in ihm einen wunderbaren Romanstoff gefunden. Denn das Leben dieses schrägen Helden der Kokosnuss bietet sich an, um eine Geschichte des Niedergangs zu schreiben. Der radikale Vegetarier siedelt vor dem Ersten Weltkrieg auf die Insel Kabakon in Deutsch-Neuguinea über, um dort seinen Orden der Sonnenanbeter zu gründen und die Kokosnuss anzubauen. Da sitzt der Sonderling, dem nur begrenzte Aufgeschlossenheit entgegen schlägt. Seite um Seite wird aus dem Sonderling ein vom Wahn gezeichneter, der sich vom Bücherfreund zum Bilderstürmer, vom Vegetarismus zum Kannibalismus, vom kraftvoll gesunden Mann zur von Geschwüren übersäten Männlein verkommt. Und so wird dieser August Engelhardt zum Sinnbild einer Kultur, eines Imperiums, das sich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges mit Giftgas entmenschlichen und massenhaft morden wird.
Christian Kracht ist vom Spiegel Rassismus unterstellt worden. Ein absurder Vorwurf, wenn man den Roman mit seinem distanzierten Ton liest. Denn der Erzähler ist Teil der Zeit zwischen 1900 und 1914. Er nähert sich seiner Figur an, hält aber Abstand. Aber eben nicht so viel, dass er den Rassismus des frühen 20. Jahrhunderts mit dem Wissen des 21. Jahrhunderts reflektiert, sondern ihn in der Zeit der Geschichte zu Wort kommen lässt. Das ist richtig, weil nur so die Figur des Asketen, der vom aufgeklärten Demokraten zum verbiesterten Antisemiten degeneriert, glaubhaft wird. Denn auch dieser Aspekt des Niedergangs ist Teil des Buches, das vor allem davon erzählt, wie die Fluchten aus einer satten und zufriedenen Gesellschaft in extreme, letztlich ungesunde und unmenschliche Experimente alles nur noch schlimmer machen.