„Notlügen“ kennen wir alle. So heilig, so moralisch aseptisch kann kein Mensch sein, um nicht auch mal auf eine Notlüge zurückgreifen zu müssen – oder besser zu wollen? Richard Swartz hat in seinem aktuellen Buch aber keine kleinen Notlügen seziert, sondern die großen, die die Voraussetzung zum Fremdgehen sind.
Seine sechs Erzählungen sind eine Steigerung des Lügens. Geht es in der ersten Geschichte um einen Mann, der einen Fehltritt macht, so geht es in der letzten, um einen Ehemann, der ein Verhältnis mit einer anderen Ehefrau so weit treibt, dass er mit ihr in Anwesenheit der Partner im gleichen Opernhaus in einer Loge während der Aufführung mit ihr schläft. Der Kick wird immer größer, die Maßlosigkeit des eigenen Wollens immer drängender – und damit die Verletzung der Partnerin.
Swartz erzählt das ohne jede moralische Empörung. Er schildert, was das Fremdgehen, das Hintergehen mit den Männern macht. Er verurteilt das Verhalten auch nicht. Sein distanziertes Schreiben – er verwendet keine Namen, sondern spricht immer nur von „Mann“ und „Frau“ – ist gerade deshalb emotional packend. Das Archetypische, das Nachvollziehbare löst gerade die Verwirrung und das Ertapptfühlen beim Lesen aus. Die Distanz schafft die emotionale Nähe. Und die Sprache, die auf jedes überflüssige Wort verzichtet. Wie bei einer guten Notlüge. Die funktioniert ja auch nur, wenn sie sich nicht in zu vielen Worten verstricken kann.
Er hat so gern gefeiert. Heute ist es das erste Mal, dass er seinen Geburtstag nicht mehr feiern kann.
Er wollte immer möglichst die ganze Familie um sich haben. Heute fehlt gerade er.
Er lachte am lautesten. Heute ist es ganz still. Und dennoch ist er da. In mir, in allen, die ihm wichtig waren. Da innen drin höre ich ihn, sehe ich ihn und spüre ich ihn. Genau deshalb fehlt er hier in diesem Leben. An einem Tag wie heute, an seinem Geburtstag, noch viel mehr als sonst.
Es war schon very british. Das Konzert des Brandenburgischen Staatsorchesters beim Choriner Musiksommer war voller musikalische Hochkomik – und voll von Präzision, Kraft und Virtuosität. Die Mischung aus Händels „Feuerwerkmusik“, Woods „Fantasia on British Sea Songs“, Elgars „Pomp and Circumstance“ und weiteren hoch amüsanten Stücken von Arnold, Walton, Heberle und Vivaldi hauchten der Backsteinruine des Klosters Chorin eine enorme Fülle Leben ein.
Vor 25 Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dass ein englischer Dirigent ein ostdeutsches Orchester leitet und das Publikum mit ironisch gebrochener Begeisterung über englische Monarchie, britische Traditionen und insularem Humor an diesem Ort so in Wallung versetzt, dass nur noch lauthalses Lachen fehlt, um alle Formen der akustischen Begeisterung auszureizen. Schon allein für diese Erinnerung an die Freiheit, die ja auch gerade auf den britischen Inseln über Jahrhunderte kultiviert wurde, hat den Besuch gelohnt.
Aber natürlich auch der Genuss an der Musik, das Staunen über die Virtuosität von Maurice Steger, der so erstaunlich schnell und intensiv seine Blockflöten blies, dass das Gehör mit dem Erfassen Tonkaskaden kaum folgen konnte. Und auch Steger hat trotz aller Konzentration auf seine Fingerläufe den Humor nicht vergessen. Im Gegenteil: Steger und Griffith ergänzten sich mit ihrer Lust am kultivierten Witz wunderbar. So sehr, dass die Grundstimmung des Abends, diese lustvolle und kraftvolle Aufforderung auf die kindliche Freude am schönen Klang, am Spaß und am Lachen, nachhallt. Und sicher noch sehr lange nachhallen wird.
Irre, was Matthias Raupach und seine Helfer da in Bad Freienwalde auf die Beine stellen. Die Sommerkomödie mit einem Comedian Harmonists-Musical fasziniert, begeistert, rührt und – vor allem – beschwingt. Dazu empfiehlt es sich nicht alleine in den Saal der Kurtheaters zu gehen. Den zu viele dieser wunderbaren Lieder, die von Raupachs Sommerkomödien-Truppe hervorragend interpretiert werden, handeln von der Liebe, der Zweisamkeit und der Freundschaft.
Nun ist das Kurtheater Bad Freienwaldes nicht mit Kurtheatern in Baden Baden, Bad Kissingen oder Karlsbad zu vergleichen. Hier herrschte schon früher Bescheidenheit statt Pomp. Aber der Saal ist schön – und versprüht zudem eine olfaktorische Nostalgie. Hier hat sich der Geruch der DDR gehalten. Dieses Desinfektionsmittel, das sich im Spannteppich und in den Sprela-Verkleidungen festsetzte. Aber: Das ist wirklich das Einzige, was unangenehm berühren könnte! Wenn man den Geruch nicht auch schon wieder als eine nostalgische Erinnerung aufnimmt.
Überhaupt ist Nostalgie der große Trumpf der zehnten Sommerkomödie. Die Leider der Comedian Harmonists kennt fast jeder. Die Inszenierung Raupachs lässt sie aufleben – aber ohne jeden Kitsch. Denn Raupach scheut sich auch nicht vor den schweren Themen, vor Judenverfolgung, Nationalsozialismus und der zersetzenden Kraft der Anpassung, die das Ende der Boygroup bringt. Raupach führt durch die Geschichte der Kombo wie in einer Nummernrevue – und schafft auch so das richtige Klima für die Songs und das Schauspiel.
Das ist wirklich bezaubernd, ergreifend und berührend.
Und ein Ausflug in das Städtchen lohnt sich zudem. Es gibt wenige so gut erhaltene Orte in der nähe der Oder.
Der heißeste 19. August seit 100 Jahren! Und das in einem Sommer, der so selten richtig Sommer war. Zwar wurde die Gartendusche, die ich im Winter geschenkt bekommen hatte, immer wieder genutzt. Doch ein richtiger Genuss war das bislang selten.
Ganz anders heute. Schon bei den schwitzigen S-Bahnfahrten in der Stadt und einigen Kilometern auf dem Rad dachte ich stets an den prickelnde Kälte, die diese Gerätschaft mit gleich zwei Duschköpfen liefern wird. Raus mit den Klamotten, runter unter die Dusche. Und dann das! Warmes, fast heißes Wasser spritzt mir entgegen!
Ich hatte es in diesem Sommer schon fast vergessen: Erst kommt das aufgewärmte Wasser aus dem Schlauch und dann erst das erfrischend kalte aus dem Brunnen. So seltsam war dieser Sommer! Nach dem warmen Schreck belebte das Brunnenwasser Kreislauf und Wohlbefinden noch. Ich hoffe, das passiert noch einige Male in diesem Jahr. Jetzt, wo ich diese wunderbare Gartendusche habe.
Christoph Ransmayr probiert die Möglichkeiten der Literatur aus. Neben seinen großen Romanen wie „Die letzte Welt“ schreibt er auch die kleinen Formen als lose Folge unter dem Titel „Spielformen des Erzählens“. „Die Unsichtbare“ ist ein Theaterstück, „Die dritte Luft“ eine Rede oder „Damen & Herren unter Wasser“ eine Bildergeschichte. Zusammen mit Martin Pollack hat er „Die Wolfsjäger“ geschrieben.
„Drei polnische Duette“ hat der schmale Band als Untertitel. Das ist irreführend, denn es handelt sich bei den drei Texten nicht um Gedichte. Vielmehr haben die beiden drei Erzählungen zusammen geschrieben. Ort der Handlungen ist die polnische Grenzregion zur Ukraine und zur Slowakei. Ein Landstrich, in dem der zweite Weltkrieg länger dauerte als anderswo. Hier kämpfte eine ukrainische Untergrundarmee noch einige Jahre gegen die Grenzverschiebungen und den Stalinismus.
Nachdem die Nazis schon ganze Dörfer ausgerottet hatten, kam es so zu einer weiteren Welle der Gewalt, der Vertreibung und der Auslöschung ganzer Dörfer. Martin Pollack hat die Gegend in seinem Buch „Warum wurden die Stanislaws erschossen“ beschrieben. Mit Christoph Ransmayr war er später dann auf Wanderschaft in den polnischen Karparten. Der war neugierig auf diese so nahe, mitteleuropäische Region, die uns doch weiter weg erscheint als die Türkei oder die Tauchreviere im Roten Meer.
Entstanden sind drei dichte Texte darüber, wie die Wunden der Vergangenheit nur oberflächlich heilen. Texte, in denen die Natur genauso wie die Geschichte dominanter ins Leben des Einzelnen eingreifen als die Moderne. Es entstehen Szenen, die an die mythologische Dimension von „Die letzte Welt“ und an die kompakten Reportagen Pollacks erinnern, ja aus einem Geflecht dieser Komponenten einen Text weben, in dem beide Stimmen ihre Solo-Kraft verlieren, um wahrlich ein großes Duett zu erzeugen.
W.G. Sebalds (1944 – 2001) letztes Buch handelt von einem Besuch auf Korsika. Er beobachtet die Totenverehrung der Korsen, den Napoleon-Kult in Ajacco und die ökologischen Veränderungen durch die Rodungen des Hochwalds. Vier Kapitel dieses Buches sind in „Campo Santo“ abgedruckt. Mehr konnten es leider nicht werden. Denn mitten in der Arbeit an diesem Buch ist W.G. Sebald 2001 bei einem Autounfall gestorben.
Zwei Jahre später hat der Fischer-Verlag diese vier Kapitel veröffentlicht. Sie sind nach wie vor wunderbar. Sie sind für alle, die noch nichts von ihm gelesen haben, ein guter Einstieg. Denn die Vermischung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse in der Vergangenheit mit Beobachtungen in der Gegenwart ist schon außerordentlich. Aber wenn Sebald daraus auch noch ein enges Geflecht von Bezügen baut, in der nicht mehr klar ist, was Literatur, was Wahrheit ist, aber der Leser immer berührt wird, immer stärker in den Bann einer Wirklichkeit gezogen wird, die ihre eigene Realität erzeugt, aus der man sich nicht zurückziehen kann, dann ist das in dieser Art nach wie vor einmalig.
Leider sind die vier Kapitel nur ein Fragment. Sebalds Tod hat verhindert, dass all dies in einem Roman zur Vollendung gebracht werden konnte. Und der Verlag hat dann nicht den Mut gehabt, dieses Fragment für sich stehen zu lassen. Deshalb wurde das Buch mit Essay und Rezensionen ergänzt, die sich mit Literaturwissenschaft von Kafka bis Weiss befassen. Das iat auch alles lesenswert. Aber nicht im Kontext mit den Kapiteln über Korsika. Die aber sollte jeder mal in die Hand nehmen – und danach die Romane!
Es war auf einem dieser Termine bei der Feuerwehr oder einer Jahreshauptversammlung eines Vereins, den ich als Schüler für die beiden Heimatzeitungen wahrnahm. Da fragte mich ein – aus damaliger Perspektive – alter Mann: „Gehörst Du zu den Besitzenden oder den Nichtbesitzenden?“ Ich Jungreporter war so sprachlos, dass er sofort erklärend nachhakte: „Habt Ihr Grundbesitz oder nicht? Denn es gibt nur zwei Arten von Menschen: Besitzende und Nichtbesitzende.“
Diese simple Weltsicht eines unterfränkischen Bauern entsetzte mich damals. So einfach ist die Welt doch nun wirklich nicht. Oder doch?
Manchmal, wenn ich im Garten das selbstgezogene Gemüse ernte, denke ich an diesen Bauern – ich glaube er kam aus Gauaschach. Zwar fühle ich mich mit unseren kleinen Beeten und Blumentöpfen noch lange nicht als „Besitzender“. Aber wenn ich in so eine Tomate oder Gurke beiße, wenn ich aus Obst Kompott, Sirup, Chutney oder Marmelade mache, dann spüre ich schon eine besondere Genugtuung. Nicht nur wegen des Selbermachens, sondern auch weil das alles ganz eigen ist, nicht gekauft, sondern wirklich selbst gezogen.
So ein Leben, auf das dieser Allen Karlsson zurückblicken kann. Er hat Franco das Leben gerettet, mit Truman Tequila gesoffen, Stalin verärgert, Nordkoreas Kim getroffen, von Mao eine kräftige Apanage kassiert und mit Churchill Auto gefahren. Ach ja: Allen Karlsson hat den Amerikanern und den Russen den Schlüssel zum Bau der Atombombe geliefert.
Das ist alles unglaublich. Aber damit nicht genug: Karlsson flieht an seinem 100. Geburtstag aus dem Altenheim und legt sich mit Drogenganoven an. Dabei lernt er neue Freunde kennen, mit denen er die Beute fröhlich teilt – und das Leben wieder genießt.
Jonas Jonasson hat wirklich einen erstaunlichen Roman geschrieben. Der Schelm Allan fällt von Abenteuer in Abenteuer und nimmt den Leser auf seinem Lebensweg mit. Mit großer Naivität stolpert er durch sein Leben. Weil er nicht zu viel nachdenkt, übersteht er alle seine Abenteuer – auch wenn mal einige Jahre GULAG in Sibirien dazu gehören. Jonasson hat den amüsanten Plot zu einem stringenten Roman gefügt, der immer wieder neue Überraschungen enthält. Das Lesen wird zu einer fröhlichen Lust, die sich durch Schmunzeln und Lachen zeigt.
Anfangs dachte ich, das ist doch alles ziemlich dick aufgetragen. Aber das ist beim Simplizissimus auch der Fall. Oder bei Oskar Matzerath. Allen Karlsson gehört in die Reihe dieser Schelme, die ein Zeitpanorama schaffen. Und den Leser dabei herrlich unterhalten.
Jetzt liegt der erste Schultag schon einige Tage zurück. In den tiefen Südosten Brandenburgs sind wir gefahren, um die Tochter von Freunden beim Gang mit der Schultüte zu begleiten. Und dieser Gang hatte es in sich: Nicht nur, dass hier in der Lausitz die Schülerinnen und Schüler mit Pauken und Trompeten von Lehrern, Eltern, Freunden und Verwandten in loser Marschordnung in die Schule gebracht werden. In Sichtweite der Dampfwolken von Schwarze Pumpe stimmt die kleine Kapelle das Steigerlied an, als es auf den Schulhof geht. Ganz so, als würden heute noch zukünftige Braunkohlekumpel gebraucht.
Und dann in der „Astrid-Lindgren-Grundschule“ mit dem integrierten kommunalen „Max-und-Moritz-Hort“. Nach dem Marsch in die Schule folgt die Einnordung der Rektorin: „Liebe Schulanfänger, liebe Eltern, verehrte Pädagogen.“ So fängt sie an. Sie macht in einem schlimmen Babysprech in ihrer Rede an die ABC-Schützen sofort klar, wer hier in diesen Räumen zu verehren ist – und wer allenfalls lieb sein kann. Denn um lieb zu sein, muss man auch gehorchen – und darf auf gar keinen Fall zappeln. Zwar könnten weder die Pippi Langstrumpf noch Max und Moritz ruhig sitzen, aber „wenn Du morgen schon nicht mehr zappelst, dann kriegst Du ein Lob.“ Ja diese Rektorin weiß, worauf es ankommt.
Nicht auf Kreativität, wie sie Pippi Langstrumpf hat, nicht auf das unkonventionelle Denken und die Phantasie der Namenspatronen. Nein, ruhiges Sitzen ist die Herausforderung, mit der sie die Schulanfänger ködert. Ihr Babysprech vermeidet jedes wirklich motivierende Wort, denn bedeutend ist die Anpassung an das, was die zu verehrenden Pädagogen verlangen.
Das macht sie auch den Eltern klar. Denn nach den sechs Jahren in der Fürsorge der Eltern kämen die Kinder jetzt in die Fürsorge dieser Frauen (auch wenn die männliche Form Männer als Lehrkräfte suggeriert, sind nur weibliche zu sehen – wenn auch mit wunderbar regionaler Haarmode in zwei Farben oder auch gern in grellem Rot). Aber ob das die Eltern beruhigt, dass die Kinder nicht den Raum bekommen sollen, um sich zu selbständigen, starken Persönlichkeiten entwickeln zu können? Sondern zu künftigen Fürsorge-Empfängern? Denn das meint der Begriff Fürsorge der Definition zu Folge ja: „Fürsorge bezeichnet die Sorge, auf die Menschen unter bestimmten Umständen ein Recht haben, und bezeichnet ebenfalls das aus der Ethik der Barmherzigkeit bzw. der Almosenpraxis erwachsene System der Fürsorge, Obsorge, Sozialhilfe oder Sozialen Sicherheit.“
Ich glaube nicht, dass die Frau wusste, was ihre Worte wirklich bedeuten. Aber ich bin ganz sicher dass sie das, was sie sagte, aus tiefster Überzeugung sagte. Und dass sie damit unter den Lehrerinnen und Lehrern Brandenburgs bei weitem nicht alleine steht.
P.S. Für unsere Schulanfängerin war es dennoch ein schöner Tag. Sie wurde schön gefeiert. Und freut sich auf die Schule – hoffentlich noch ganz lange.